Betrachtungen zu einem aussterbenden Kunsthandwerk
"Warum es sich so schwer machen, wenn man in viel kürzerer Zeit dasselbe Motiv in Ölfarbe auf eine ähnlich große Leinwand bannen kann?", fragte der holländische Bildhauer Auke de Vries, der bei Roswitha zu Gast war.
Was sind die Motive, die einen Künstler so fesseln, dass er den Entstehungsprozess seines Werkes dermaßen erschwert, dass der Zeitrahmen eines Jahres zur Herstellung gerade so ausreicht?
Das Nähen war ihre erste Berufswahl nach der Absolvierung der Mittleren Reife bei den Salvatorianerinnen in Berlin Weidmannslust. Ihr vorzügliches Zeugnis hätte sie problemlos bis zum Abitur führen können, aber unter den sechs Geschwistern konnten nur die drei Brüder dies beanspruchen. Zu sehr lastete die Not auf der Mutter, die ihre sechs Kinder allein durchbringen musste. Der Vater war von den DDR Behörden als "Kapitalist" enteignet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Ihr gutes Zeugnis eröffnete ihr von 1955-58 eine Lehre bei den Modeschöpfern Gehringer & Glupp am Ku-Damm.
Doch sie wollte aus dem textilen Material, das ihr so sehr ans Herz gewachsen war, mehr machen als nur Kleidungsstücke, sogenannte angewandte Kunst. So bewarb sie sich bei Jan Bontjes van Beek an der Meisterschule für das Kunsthandwerk und landete problemlos für die nächsten vier Jahre zwischen 1958-62 in der Webwerkstatt, in der noch nach alt hergebrachter Art Materialkunde und Webtechnik gelehrt und praktiziert wurde. In den begleitenden Kunstfächern lernte sie dann Johannes Grützke kennen, den sie 1964 heiratete. Ab dieser Zeit bis Ende der siebziger Jahre webte sie ausschließlich nach großformatigen Kartons, die Johannes für sie entwarf.
Erst als ich als Untermieter in ihr Leben trat, versuchte ich sie auf ihre eigene Kompositionskunst aufmerksam zu machen, die am evidentesten in der Einrichtung ihrer Wohnung in der Niebuhrstrasse anzutreffen war. Als manische Sammlerin waren all ihre Wände mit Trödelobjekten verziert, mit braunem Emaillegeschirr, Kernseifen, Händchensammlungen, Püppchen, Blechrobotern, Zwiebelmuster Geschirr. Auch unzählige Webzusatzgeräte und Berge von Wollvorräten füllten Glasschränke und Regale.
Ich fotografierte die so liebevoll arrangierten Dinge, um Roswitha auf diese verkappten Stilleben aus ihrer ureigenen Welt aufmerksam zu machen. So kamen die ersten eigenen Schöpfungen zustande in der Form von Emailtopfstilleben, Tür- und Fensterbildern, imaginären Architekturen, Vorhängen, Außen- und Innentreppen, vermauerten Fenstern und Türen an alten Häusern, bis zu Einblicken in Innenräume. Sie entwickelte eine besondere Vorliebe für "Trompe l´oeil" Kompositionen.
In letzter Zeit hat sie einige Themen aus meiner Bildhauerproduktion umgesetzt und quält sich mit zwei Vogelschauansichten von meinen Stadtneugründungen Kirchsteigfeld und Brandevoort herum. Diese Themen sind besonders schwierig umzusetzen, da sie sich wie aus einem kleinteiligen Mosaikpuzzle zusammensetzen. Aber es war ihre eigene Wahl. Ich konnte, außer den ersten Anschüben in den siebziger Jahren, sie nie wieder zu einem Thema motivieren. Einige ihrer Aquarelle und Ölbilder sind von einer derartig farbigen Leuchtkraft, dass ich mir eine gewebte Umsetzung sehr gut vorstellen könnte. Ich hab es mit bezahlten Bestellungen versucht, aber umsonst.
Nun hab ich noch immer keine Antwort auf Roswithas so mysteriöse Faszination zu diesem archaischen Kunsthandwerk gefunden. Ich erlebe die Hintergrundgeräusche des Webens in unseren Wohnungen in Berlin und in Italien, das Klappern der Pedalen, das Klopfen des Webkamms und das ängstliche Kämpfen um die richtigen Lichtverhältnisse, damit die Farbauswahl der Wolle stimmt. Dazu kommt nicht zuletzt das tägliche Ringen um die Zeit , die sie zum Weben braucht. Sie ist um all die so belastenden Widrigkeiten leidenschaftlich besorgt und kämpft besessen um deren Durchsetzung.
Das Wort Kunst ist ihr zutiefst suspekt, zu sehr ist sie mit dem Handwerk verwachsen. Mit dem Kunstmarkt hat sie erst recht nichts am Hut. Anbiedern und feilbieten will sie ihre Bildteppiche nicht und so stapeln sie sich an den Wänden unserer Wohnungen und Ateliers bis sie irgendwann ohne unser Zutun ihren Platz gefunden haben werden.
Rob Krier
Berlin im April 2011