Kommentar von Ernst Wasmuth
Es gibt - man sollte es in unserem marktschreierischen Kulturbetrieb nicht glauben - auch Künstler, die so bescheiden sind, dass man sie geradezu drängen muss, ihre Arbeiten zu zeigen und auszustellen. Ich habe so etwas bisher nur bei Musikern erlebt. Sie musizierten aus Spaß an der Freude, aus innerer Notwendigkeit heraus, und wiesen den Gedanken an ein Konzert und dergleichen weit von sich.
Zu dieser Spezies gehört auch Roswitha Grützke (und wie zufällig steht auch bei ihr ein großer schöner schwarzer Flügel zu Hause...). Roswitha webt. Und es ist ihre ganz besondere Leidenschaft und Gabe, mithilfe der Webkunst die unterschiedlichsten Aufgaben in Angriff zu nehmen und zu lösen. Genau wie ich war auch sie einst von den Bildteppichen des Mittelalters, wie der berühmten "Dame à la Licorne" tief beeindruckt oder von den großen barocken Gobelins in Frankreich und Italien: unglaublich, diese Kunstfertigkeit, wie viele fleißige Hände waren in den Manufakturen erforderlich gewesen, um diese Pracht zustande zu bringen, diese Schlachten- und Götterszenen, die von den Herrschern Europas damals quasi mit Gold aufgewogen wurden. Man musste ganz nah herangehen, um sich zu überzeugen, dass all dies wirklich gewebt ist - ein Wunder!
Dieser Reiz des Gewebten, des Textilen scheint in unserer heutigen Video-Neon-Plastik Kultur nur noch sporadisch wahrgenommen zu werden, auch weil ihm etwas zugrunde lieg, was man fast despektierlich als "Kunsthandwerk" bezeichnet. Und wer möchte heute noch als "Handwerker" gelten, wo es doch darauf ankommt, Konzeptkünstler zu sein, also nur noch Ideen zu haben, die nur von ganz wenigen - wenn überhaupt - verstanden werden und meist gar nicht mehr zur Ausführung kommen.
Das handwerkliche Tun, das Weben, ist indes eine der ältesten Tätigkeiten der Menschen, speziell der Frauen, und steht am Anfang unserer Zivilisationen. Es ist viel älter noch als die Geschichte von Penelope, welche nachts das tags Gewebte wieder auflöste, um Odysseus treu zu bleiben... es hat uns über die Jahrtausende begleitet und neben dem unerlässlichen Tuch auch immer edlere Stoffe produziert und in Kunstwerke aller Art verwandelt. Parallel dazu entstanden immer entwickeltere Formen des Webstuhls - eine Technikgeschichte per se, welche ganz offenbar im Nahen Osten entscheidende Durchbrüche erfuhr und zum Entstehen immer vielseitigerer Webstühle und -techniken führte, was Meisterwerken der Textilkunst aus Venedig, Florenz, Lyon und Paris bezeugen.
Von der zunehmend industriellen Produktion hat sich schon im 19. Jahrhundert das Künstlerische abgespalten, um eigene Wege zu suchen, zunächst in England und dann erneut und anders im Bauhaus und danach.
Roswitha Grützke's Werk, das nun in dem kleinen Band seit 1982 dokumentiert ist, steht in dieser Tradition des Handwerklichen und Künstlerischen. Nachdem sie ursprünglich das Schneiderhandwerk erlernen sollte, wechselte sie an der "Meisterschule für das Kunsthandwerk" am Charlottenburger Tor Ende der 50er Jahre über zur Weberei und absolvierte sowohl eine handwerkliche wie malerische Ausbildung. Wohlwollender Rektor war damals der Keramiker Bontjes van Beek. Gesellenprüfung, Designerdiplom und zuletzt die Meisterprüfung folgten aufeinander.
Zunächst versuchte sich Roswitha an der Umsetzung von Arbeiten ihres damaligen Ehepartners Johannes Grützke, aber auch anderer Künstler wie Otmar Alt, bevor sie dann, von Rob Krier ermutigt, eigene Wege ging und sich an unterschiedliche Themen heranwagte, wobei eine Automatisierung sprich Abschaffung des Webstuhls für sie undenkbar war.
Man spürt unmittelbar, wie Roswitha jedesmal von der speziellen Spannung zwischen den technischen Möglichkeiten des Webstuhls und den jeweiligen Motiven fasziniert ist:
die Glanzlichter auf Töpfen und Kannen in ihren Stillleben, Licht und Tiefe in den architektonischen Veduten, die Wiedergabe von zeichnerischen Halbtönen oder die Umsetzung z.B. eines architektonischen Grundrisses in Gewebtes! Gewebte Interieurs, gewebtes Klavier und Cello, und dann die aufregende Folge von gewebten Gewebebildern, von wehenden sonnendurchfluteten Vorhängen, das hat schon einen ganz besonderen Reiz.
Treppen in Potsdam, architektonische Aus- und Durchblicke, architektonische Vexierspiele und Spiegeleffekte sowie klassische Zitate, deren Inspiration Motive aus der Provence und Italien sind, das alles vermittelt Ruhe, Freude, Überraschung und die Lust, immer wieder hinzuschauen und sich verblüffen zu lassen.
Man glaubt, eine leise Musik im Hintergrund zu hören.
Was will man mehr von Kunstwerken?
Wir danken Roswitha Grützke, dass sie uns ihre zeitlosen Arbeiten, Unikate, an denen sie jeweils bis zu einem halben Jahr gearbeitet hat, endlich gezeigt hat!
Ernst Wasmuth
Ausstellungseröffnung Modus Möbel, Berlin 8.12.2000